Mythos Steher-Rennen. Eine Radsport-Disziplin, die wie keine andere sonst, legendären Charakter hat. Nächsten Dienstag, 4. Juni sind auf der Rennbahn in Oerlikon, der ältesten Sportanlage der Schweiz, zehn Gespanne am Start, so viele wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Sogar zwei Vorläufe müssen gefahren werden.
Steher-Rennen wurden schon so oft totgesagt, dass der Folgesatz fast schon langweilig ist. Das Zitat nämlich, dass Totgesagte länger leben. Dass Steher-Rennen eine stark gefährdete Spezies sind und es davon immer weniger gibt, hat viele Gründe. Vor hundert Jahren – die Rennbahn in Oerlikon war kaum fertig gebaut – war das noch anders: Steher-Rennen waren die Top-Attraktion auf allen Radrennbahnen. Und das blieben sie bis in die Fünfziger Jahre. Tausende von Zuschauern strömten jeweils zu den Rennbahnen, wo Steher-Rennen angesagt waren. An den Qualm und den knatternden Lärm der Töffs erinnern sich heute noch viele, wenn sie an ein Steher-Rennen am Sechstagerennen im benachbarten Hallenstadion denken.
Auch wenn die Töff-Motoren den heutigen Lärmregeln entsprechen, alle IGOR-Maschinen mussten deswegen vorgeführt werden, haben diese Rennen an Attraktivität nichts verloren. Wir von der IGOR behaupten sogar: «Das Zuschauerinteresse verzeichnet steigende Tendenz.» Die Gespanne, bestehend aus Schrittmacher auf einem schweren Töff mit 850ccm Motor und einem Velorennfahrer dahinter, erreichen in Oerlikon Geschwindigkeiten bis zu 95 km/h.
Sind Steher-Rennen (mit internationaler Beteiligung) angesagt, wie wieder am nächsten Dienstag, 4. Juni, darf man bei guter Witterung mit ein paar hundert mehr Zuschauern rechnen. Nebenbei bemerkt: Das verbessert die Miene und Laune des IGOR-Buchhalters nicht merklich. Die Aufwand- / Ertragsrechnung kann man drehen und wenden, wie man will: Steher-Rennen sind das teuerste Hobby der Bahnbetreiberin IGOR. Nur so zum Sagen: Ein einziger Töffreifen kostet CHF 380.— und hält kaum eine Saison.
Seit vielen Jahren hält die IGOR zehn gleichwertige Yamaha-Töffs, Jahrgang 1990, in erstklassigem, wettbewerbsfähigem Zustand. Und das eben, wie erklärt, nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern aus sentimentalen, nostalgischen und aus Freude an diesem einmaligen Sportzauber, auch aus Freundschaft zu den besonderen Persönlichkeiten, welche diesen Sport betreiben und immer wieder zu tollen Anekdoten beitragen, die man gerne erzählt. Seit einem Jahr gehört mit Nicole Fry auch eine Frau zur Schrittmacher-Zunft dazu.
Nirgendwo sonst in Europa – ja auf der Welt – werden so häufig Steher-Rennen ausgetragen, wie in Zürich. Die Kosten sind einerseits sicher ein Grund, weshalb es dafür immer weniger Veranstalter gibt. Zudem sind zahlreiche andere Gründe dafür ausschlaggebend. Steher-Rennen sind ein Teamsport. Es braucht zwei aktive Sportler – schon zum Trainieren und sich aufeinander einspielen – auf speziell hergerichteten Schrittmacher-Maschinen. Es braucht diese Töffs. Es braucht eine Rennbahn.
Der Schrittmacher, so heisst der Mann der vorne im Tritt des Motorrades steht (um möglichst viel Windschatten zu spenden) und der Steher, der Athlet, der dahinter auf einem speziellen Rennrad sitzt. Na ja, sitzt… Eher liegt und sich dabei wie ein Verrückter abstrampelt. Nur den Rücken des Vorfahrers hat er im Blickfeld.
Steher-Rennräder sind speziell. Sie haben ein kleineres vorderes Rad (als die anderen Bahnvelos, aber wie diese auch, keine Bremsen und Gänge, nur Starrlauf). Mit blindem Vertrauen versucht also der Athlet dem Vorfahrer möglichst nahe an der Rolle, die hinter dem Motorrad an einem Gestänge montiert ist, zu folgen. Wehe, er fällt von der Rolle, er verliert den Windschatten, dann erlebt er den Luftwiderstand wie eine Wand, seine Geschwindigkeit fällt um 40 km/h.
Schon vor zwei Jahren hiess es in einem NewsLetter der offenen Rennbahn: Es tut sich wieder etwas in der Steher-Szene in Zürich. Am nächsten Dienstag, 4. Juni, bietet sich einem grossen Publikum nun eine gute Gelegenheit, die tollkühnen Männer (und eine Frau) in ihren schwarzen Lederkombis auf ihren schweren Motorrädern mit den waghalsigen Piloten dahinter noch einmal zu erleben. Zehn Teams haben sich angemeldet. «So viele wie seit über zwanzig Jahren nicht mehr», sagt Jan «Rämsi» Ramsauer, der als IGOR-Vorstandsmitglied und ehemaliger dreifacher Steher-Schweizer Meister, alle Steher-Rennen auf der Rennbahn koordiniert und wie kaum ein anderer diese Szenerie und ihre Charaktere bestens kennt. Steher-Rennen und Persönlichkeiten, die das als Hobby betreiben, sind ein ganz spezielles Völklein.
Der Mythos lebt.
Heier Lämmler – Öffentlichkeitsarbeit | IGOR und Alois Iten – Präsident | IGOR