2003 Auferstehung
Die Szenerie glich einer Sequenz aus einem Gangsterfilm aus Chicagos besten Zeiten. Sieben Mann sassen am 12. Dezember 2002 zur Gründungsversammlung des Vereins „IG offene Rennbahn Oerlikon“ bei Bier und Pizza im fensterlosen Hinterzimmer einer Schreinerei in Zürich-Affoltern. Ein Velomech, der Schreinermeister, ein Architekt, ein Galeriebesitzer, ein Kaufmann, ein Bankkaufmann und ein pensionierter Sportreporter, alle sieben Velofans und verliebt in die 90jährige Aristokratin aus Oerlikon: die offene Rennbahn. Diese galt es aus ihrer drohenden Agonie zu befreien und mindestens auf die Intensivpflegestation zu verlegen. Die Zeit drängte. Innert weniger Tage mussten die sieben Unentwegten eine Lösung finden. Dem Schweizer Bahnrennsport drohte der Kollaps, der Rennbahn der Abbruch. So fand innert Monatsfrist am 9.Januar 2003 im selben Raum in der Schreinerei in Zürich-Affoltern die konstituierende Sitzung statt. IGOR – die „Interessengemeinschaft offene Rennbahn Oerlikon“ war funktionsfähig, jeder ab sofort für ein eigenes Ressort zuständig. Das Ueberleben jedoch war noch keineswegs gesichert, die Risiken und Ungewissheiten immens.
Das Zürcher Sechstagerennen lag seit zwei Jahren darnieder, nach der 49. Austragung war Schluss. Trotz „Liebeserklärungen“ der HASTA-Direktoren an den Radsport und Pressekonferenzen mit Durchhalteparolen, Sechstagerennen Nummer 50 fand 48 Jahre nach der Premiere von 1954 nicht mehr statt.
In Zusammenarbeit mit Hauptaktionär Stadt Zürich forcierte man in den Büros des Hallenstadions an der Wallisellenstrasse den Umbau des denkmalgeschützten Bauwerks, dem als erstes die Rennbahn, das phantastische 250 m Holzoval, zum Opfer fiel und herausgerissen wurde. Vor dem Krieg als reines Sportstadion eingeweiht mutierte dieses zur sogenannten Eventarena, mit der trotz Umbaukosten von über 140 Millionen Franken keiner richtig glücklich ist.
Vor allem nicht die Rennfahrer: die waren ausquartiert, der Hallenradsport gestrichen, ohne Sechstagerennen wurden keine Nachfolger der Kübler, Koblet, Roth und Bucher mehr benötigt.
Gegenüber der Stadt Zürich vertraglich verpflichtet den Betrieb auf der offenen Rennbahn zu garantieren, verflüchtigte sich das Interesse der AG Hallenstadion merklich. Nur noch sporadisch fanden die bis anhin wöchentlichen Abendmeetings statt, Regenwolken am Dienstagvormittag waren sehnlichst erwünscht und die Absage der Veranstaltung damit jeweils perfekt. Für die Rennfahrer lohnte sich für die wenigen Starts der Trainingsaufwand kaum mehr, sie blieben so fern wie die Zuschauer, das Aus war programmiert.
Zeit also zu handeln für die sieben Unentwegten aus der Schreinerei in Zürich-Affoltern.
Ihre einzigen Infos: die AG Hallenstadion klagte über jährliche Defizite des Rennbetriebs in sechsstelliger Höhe, wollte aus dem laufenden Vertrag mit der Stadt Zürich aussteigen und die tolle Anlage und deren Innenraum am liebsten nur noch als Parkplatz nutzen.
In einer einzigen Sitzung entstanden so eine erste Saisonplanung und eine Kostenschätzung. Sofort war klar: nur mit freiwilligen, ehrenamtlich tätigen Helfern war eine Sommersaison zu überstehen.
Gewillt das Risiko einzugehen, galt es nun die AG Hallenstadion als Vertragspartner der Stadt Zürich abzulösen. Die Hasta-Direktoren waren rasch bereit aus ihren Verpflichtungen entlassen zu werden, doch bei der Stadtverwaltung gab es juristische Bedenken. Sie hatte Bedenken eine städtische Sportanlage an Privatpersonen zu verpachten. Ein Präjudizfall sollte nicht geschaffen werden, mindestens ein Verein musste als Vertragspartner vorhanden sein. Was dabei vergessen ging: Mit Hans Maag rettete bereits einmal ein privater Pachtinhaber zusammen mit einer Schar freilwilliger Helfer und viel Fronarbeit die Rennbahn vor dem Abriss. Freiwillige Helfer waren noch zu rekrutieren, Inserenten fürs Programmheft und Werbepartner zu finden. Einige bestehende Verträge der AG Hallenstadion konnten übernommen werden, einige tausend Franken Startkapital waren damit mindestens theoretisch vorhanden.
Doch der Start war noch nicht frei: Die Stadtverwaltung war auch nicht bereit dem inzwischen offiziellen Verein „IGOR“ die Rennbahn zu vermieten. IGOR kannte zwar viele Rennfahrerinnen und Rennfahrer vom Schüler bis zum Weltmeister, die ihren Sport ausüben wollten aber leider nicht IGOR angehörten, sondern als Mitglieder ihrer angestammten Veloclubs fungierten.
Zwei Monate vor dem geplanten Eröffnungsmeeting am 6. Mai 2003 war guter Rat teuer, eine weitere Sitzung vonnöten. Jetzt mussten gute Beziehungen genützt werden.
Die Idee, den SRB, heute Swiss Cycling, einzuspannen brachte die Erlösung. Alois Iten, inzwischen zum Präsidenten von IGOR ernannt und als diplomierter Nationaltrainer der Junioren mit den Verbandsgepflogenheiten von Swiss Cycling bestens vertraut, erhielt den Auftrag mit Präsident Fritz Bösch zu verhandeln. Dessen Verband war zwar faktisch pleite und nicht im stand die Rennbahn zu mieten, musste aber als Partner ohne jegliche finanzielle und organisatorische Verpflichtung herhalten und den Vertrag mit der Stadt unterschreiben. Juristische Hürden waren damit genommen und jedermann glücklich. Ohne Geld, mit viel Enthusiasmus konnten die sieben Verrückten darangehen, in den verbleibenden fünf Wochen die Saisoneröffnung zu organisieren.
Werbebudget war keines vorhanden. So kreierte man in Heimarbeit ein Plakat und liess erneut die Beziehungen spielen. Befreundete Velohändler, Gastwirte und weitere Gewerbetreibende – viele von ihnen einst selber aktive Rennfahrer – hängten das Kleinplakat in ihre Schaufenster und Lokale. IGOR war sichtbar, die Rennbahn wieder im Gespräch. Einladungen an sämtliche Zeitungs-, Radio- und TV-Redaktionen zu einer Medienorientierung folgten und wurden befolgt. Die Neugier war geweckt, die sieben „Verrückten von Oerlikon“ und ihr von vielen als hoffnungsvolles Unterfangen eingeschätzte Tun interessierte.
So platzte das mit historischen Fotos aus der 90jährigen Geschichte geschmückte Rennbahnstübli am 24. April 2003 beinahe aus den Nähten. Seit Jahrzehnten hatten nicht mehr derart viele Medienschaffende den Weg zum Betonoval gefunden. Und Alle berichteten und wiesen aufs Eröffnungsmeeting hin. Der Werbeeffekt war unbezahlbar, das Vertrauen in uns Unentwegte und unserer freiwilligen Helferinnen und Helfer gross. Man vertraute in unsere nichtkommerziellen Absichten und liess sich von der Tradition der ältesten – nun wieder belebten – Sportanlage der Schweiz mit reissen.
Hürden waren dennoch etliche zu überwinden. Dem Septett war klar: Tradition muss sein, ohne Steherrennen geht’s nicht. Die zehn Schrittmachertöffs standen zwar wie seit Jahren in der Garage im Kabinenhof, durften aber nicht verwendet werden. Eigentümerin der Yahamas war immer noch die AG Hallenstadion. Diese war bereit zu verkaufen. Zu einem Preis allerdings, der für IGOR schlicht nicht zahlbar war. Guter Rat war teuer, Beziehungen erneut nötig. Die befreundeten Organisatoren im süddeutschen Singen erklärten sich bereit ihre Stehermaschinen nach Oerlikon zu dislozieren und sie bei Gebrauch temporär zurückzurufen. Die Herren auf der anderen Strassenseite sassen auf teuren Töffs, die niemand brauchte. Deren Preis fiel, fiel so tief, dass der Club der „Freunde der offenen Rennbahn“ – eine Vereinigung von Rennbahnfans, einst gegründet von Sepp Voegeli – die zehn Maschinen kaufte und der IGOR zur Verfügung stellte. Auch die übrigen Hürden wurden überwunden. Knapp 1000 Fans erlebten so am 6. Mai 2003 das erste IGOR-Meeting und damit die Widerauferstehung der offenen Rennbahn Oerlikon inklusive ihrer geliebten, unverzichtbaren Steherrennen, den Kämpfen hinter den grossen Motoren.
Als Lohn durften sie 2012 „100 Jahre offene Rennbahn Oerlikon“ und „10 Jahre IGOR“ feiern.
Vielen Dank Euch Allen
Mitglieder IGOR :
- Alois Iten *, Velomechaniker/Trainer
- Urs Hodel *, Kaufmann, 2003 bis 2018 (†)
- Marcel Hohl *, Kaufmann, 2003 – 2004
- Paul Kleger *, Schreinermeister, 2003 – 2012
- Werner Kraus *, Bankkaufmann
- Willy Kym *, pens. Sportredaktor, 2003 bis 2011 (†)
- Jürg Vogel *, Architekt, 2003 – 2014
- René Hodel, Kaufmann, 2005 – 2018
- Ernst Abegg, pens. Journalist, 2012 – 2018
- Hugo Trachsler, 2018 – 2020
- Heier Lämmler, seit 2018
- Matthias Minder, seit 2018
- René Sturzenegger, seit 2018
- Peter Mettler, seit 2019
- Jan Ramsauer, seit 2023
* Gründungsmitglied